Alice Gudera

Blätter
Manfred Holtfrerich

Mit einer gewissen Leichtigkeit lassen sich die naturnah aquarellierten Blätter (S.##) Manfred Holtfrerichs den präzisen Pflanzenstudien romantischer Künstler zur Seite stellen. Doch bei aller scheinbaren Nähe zu den älteren Werken behaupten sich die Arbeiten des Hamburger Künstlers als künstlerische Zeugnisse eigenen Ursprungs. Darin verbirgt sich ein grundsätzlicher Kern von Naturstudien: Seit dem Spätmittelalter stehen sie für die getreue Schilderung von Pflanzen, Tieren oder Gesteinen, offenbaren aber zugleich eine wesentliche Auseinandersetzung mit künstlerischen Fragen der jeweiligen Entstehungszeit.¹

Die einzelnen Blätter sind Teil einer 1990 begonnenen Serie, bei der Holtfrerich aufgelesene Blätter von Bäumen einzeln und minutiös im Maßstab 1:1 wiedergibt. Das Papierformat ist so groß gewählt, dass sich das dargestellte Blatt deutlich von der weißen Fläche abhebt und den Blick auf sich lenkt. Schattenlos beherrschen die vegetabilen Elemente das weiße Papier, präsentieren sich vollendet und lassen keinen Zweifel an ihrer Übereinstimmung mit dem natürlichen Vorbild aufkommen. Genauestens überträgt Holtfrerich nicht nur die morphologischen Eigenheiten unterschiedlichster Blätter, gibt ihre Umrisse und die natürliche Binnenzeichnung in allen Details wieder, sondern zeigt überdies verschiedenartige Verfärbungen, die die jahreszeitliche Entwicklung mit sich bringt, die aber auch aus Umwelteinflüssen resultieren können.² Löcher und Randunregelmäßigkeiten durch Insektenfraß aquarelliert er ebenso exakt wie die Veränderungen durch Parasitenbefall. Er porträtiert die Blätter in ihrem höchst individuellen Aussehen mit allen Zeichen der Zeit und gibt damit – zumal im Kontinuum der Serie − ein Bild von Geschichte und Vergänglichkeit.

Obschon Holtfrerichs Blätter in den Einzelheiten den Vergleich mit der Wirklichkeit heraufbeschwören, lässt sich nicht von einem Trompe-l’Œil-Effekt sprechen, denn es fehlen illusionistische Hinweise auf Dreidimensionalität. Die strenge Anordnung auf dem weißen Büttenpapier trägt vielmehr zum Eindruck ausgesprochener Präsenz des Gemalten bei und führt von der Idee einer repräsentativen Pflanzendarstellung weg. Der Gegenstand gewinnt durch die naturnahe Aufnahme eine extreme Nahwirkung, bleibt jedoch durch seine schwer fassbare malerische Wiedergabe und seine isolierte Stellung gleichzeitig fern, erscheint zutiefst künstlerisch im Ausdruck. Mit ihren augenfälligen Verletzungen und Deformationen erzeugen die Blätter daher vor allem einen hohen ästhetischen Reiz.

Auf die Zuordnung zu einer Pflanze scheint es tatsächlich überhaupt nicht anzukommen, entsprechend verzichtet Holtfrerich auch auf botanische Bezeichnungen. Von der unmittelbaren Anschauung soll offenbar keinerlei inhaltliche Information ablenken; Titel und Nummerierung stehen deshalb auf der Rückseite. Mit der Bezifferung der Arbeiten fügt der Künstler ein registrierendes Element hinzu, das zwar die Ordnung der gemalten Blätter in einer Schublade ermöglicht, sich hingegen jeder Klassifizierung des Naturvorbildes entzieht. Die Blätter haben also keine systematisierende oder lehrende Funktion und zeugen nicht zuletzt durch ihre museale Einbindung von einer künstlerischen Aneignung der Wirklichkeit. Ferner tragen sie neben der Nummerierung rückseitig den Titel Blatt, was doppeldeutig sowohl auf die allgemeine Benennung des Motivs als auch auf den Bildträger anspielt. Dies bestätigt einmal mehr die künstlerische Absicht hinter der so gewissenhaft exakten Arbeitsweise.

Die genaue Beobachtung natürlicher Elemente, ihr In-den-Blick-Nehmen mit dem Ziel, überindividuelle künstlerische Aussagen zu formulieren und nicht lehrreiches Material zu bieten, verbindet die Blätter Holtfrerichs mit den Pflanzenstudien aus dem Kreis der Romantiker. Mehr und mehr Künstler fangen in den 1780er Jahren an, sich die Natur durch genaueste Detail- und Ausschnittstudien anzueignen. Während Naturstudien vorangegangener Zeiten ihren Zusammenhang in Herbarien, Florilegien oder als Vorarbeiten für Altäre hatten, spielen sie nun eine entscheidende Rolle für den Wandel in der Auffassung von Landschaftsmalerei. Die Nobilitierung einzelner Naturelemente zum bildwürdigen Motiv als Voraussetzung für ein verändertes Verständnis von Landschaft antwortet dabei zweifellos auf die zunehmende Bedeutung empirischer Beobachtung innerhalb der Naturwissenschaften.³ Wenn die durch das Landschaftsbild vermittelte Wahrheit fortan nicht nur als Verkörperung eines reinen Ideals verstanden werden will, so ist sie zwangsläufig an die Wiedergabe konkreter Naturelemente gekoppelt. Daher entwickelt sich die Naturstudie zu einem wichtigen Ausgangspunkt für alle Richtungen der Landschaftsmalerei um 1800. Der empirische Blick auf die Natur bedeutete für die Kunst freilich stets eine ästhetische Aneignung jenseits rein mimetischer Abbildung. Die hier gezeigten Naturstudien romantischer Künstler wie Friedrich Nerly (1807–1878), Friedrich Preller (1804–1878) oder Carl Gustav Carus (1789−1869) weisen deshalb – wie die Blätter Manfred Holtfrerichs – sämtlich über das Individuelle des Naturelementes hinaus, lassen also keinen Zweifel an ihrem ästhetischen Anspruch. Dabei vermitteln sie auf je eigene Weise die Faszination von der Schönheit und Vielfalt, die dem kleinsten natürlichen wie künstlerischen Detail anhaften.

Im Unterschied zu den romantischen Werken verzichten die Aquarelle Holtfrerichs auf einen größeren inhaltlichen Zusammenhang. Während die Romantiker über den Mikrokosmos der Pflanzenwelt einem Ganzen entgegenstrebten und jeweils eigene − naturwissenschaftliche, philosophische, religiöse – Orientierung beabsichtigten, schließlich im Landschaftsbild der Komplexität der Naturerscheinungen eine Deutung unterlegten, verunsichern die Blätter Holtfrerichs, indem sie in einer Zeit feinster technischer Reproduktionsmöglichkeiten offensichtlich keine Funktion oder höhere Bedeutung außerhalb des Bildes anstreben. Längst haben Künstler der Erkenntnis Rechnung getragen, dass es keinen einheitlichen, umfassenden Ausdruck von Natur (mehr) geben kann. Die Blätter sind folglich vor allem eines: als Kunst gegenwärtig. Im Moment der Betrachtung irritieren und befragen sie unsere Wahrnehmung, die damit zum eigentlichen Thema wird.

Blatt 143

Manfred Holtfrerich
Blatt (143), 2008, Aquarell auf Bütten
500 x 420 mm
Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen, Kupferstichkabinett

Blatt 149

Manfred Holtfrerich
Blatt (149), 2008, Aquarell auf Bütten
500 x 420 mm
Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen, Kupferstichkabinett

¹ Zu Naturstudien gehören ferner nahsichtige, kleine Naturausschnitte, die letztendlich auf vergleichbare künstlerische Zusammenhänge verweisen. Vgl. dazu den Beitrag von Katharina Erling im vorliegenden Katalog, S. ##.

² In den frühen Blättern der Serie zeigt Holtfrerich noch keine derartigen Veränderungen.

³ Vgl. Mitchell 1993, S. 29−32.