Weser Kurier, Bremen, Von Johannes Bruggaier BREMEN (Eig. Ber.)

Bäume, Vasen und Windmühlen:

Werke von Manfred Holtfrerich sind in der Bremer Galerie Claassen-Schmal zu sehen
In reifem Alter zeigen auch Ahornblätter Charakter 05.11.09

Zu den ganz alltäglichen Wundern zählt der Baum. Achtlos fegt die Kehrmaschine seine Blätter von der Straße. Dabei ist jedes von ihnen ein Kunstwerk. Keines gleicht dem anderen, Blatt für Blatt ein eigener Charakter.

Vasen oder Kegel? Wandobjekte von Manfred Holtfrerich.

In seinen Aquarell-Porträts, welche die Werkschau in der Bremer Galerie Claassen-Schmal zeigt, arbeitet Manfred Holtfrerich jede Facette dieses Naturprodukts heraus. Jedes seiner skizzierten Blätter erhält zu seiner Entfaltung großzügigen Raum. Leuchtend Rot hebt sich etwa das Exemplar eines Ahornbaums vom weißen Hintergrund ab. Mit majestätischer Eleganz reckt es sich in die Höhe: schlank, gereift, fast ein wenig eingebildet.

Auf einem anderen Papier ist seine Schwester zu finden. Aber, ach: Was für eine dicke, feiste Henne macht sich da breit! Mit ihrem ausladenden Unterteil scheint sie es sich auf der Fläche regelrecht gemütlich zu machen, der kurze Stängel krümmt sich unter dem Gewicht. Und dann ein drittes Blatt: Kränklich sieht es aus mit seinen gelben Einfärbungen, Typ Intellektueller, der sich zu lange in geschlossenen Räumen aufgehalten hat.

Ob elegant, dick, oder blass: Bei Holtfrerich ist jeder Charakter vertreten. Nur zwei Sorten fehlen. Erstens: der gewöhnliche Durchschnittsahorn der kanadischen Flagge – ein Ideal, wie es sich nur der Mensch ausdenken kann, nicht aber die Natur. Zweitens: junge Exemplare. Mit Baumblättern nämlich verhält es sich wie mit guten Weinen. Der Charakter zeigt sich erst im gereiften Alter.

Themenwechsel: Vasen. Oder sind es Kegel? Jedenfalls hängen vier wohlgerundete, in der Mitte stark taillierte Gegenstände an der Wand, die den männlichen Besucher gleich an Frauenkörper denken lassen. Drei Farben sind auf ihnen in dicken Streifen aufgetragen. Der Hals der ersten ist hellblau, mit ihm beißt sich der pinkfarbene Mittelteil. Hinzu gesellt sich ein knalliges Gelb im unteren Bereich des Objekts. Blau, pink, gelb, basta. Nichts erinnert mehr an filigrane Blattstudien mit detaillierten Farbdifferenzierungen. Stattdessen: Ramsch in Krawallfarben. Kaum zu glauben, dass hier ein und derselbe Künstler gewirkt haben soll.

Bei näherer Betrachtung jedoch lassen sich unvermutete Zusammenhänge erahnen. Denn in den unterschiedlichen Farbkompositionen offenbaren die vier Körper stark variierende Assoziationsspektren. Während das pinkbetonte Objekt fast anzüglich ist, wirkt sein Pendant in der Kombination von Gelb, Weiß und Blau wie einer Kinderstube entnommen. Wurde hier wirklich lediglich eine Farbe eingetauscht? Pink gegen weiß? Nein: Auch die Reihenfolge der Farbstreifen ist verändert. Das reicht dann aber auch schon, um einem Exponat eine gänzlich veränderte visuelle Botschaft mit auf den Weg zu geben. Und sind es bei den Baumblättern nicht gleichfalls nur Details, die zu erheblichen Differenzen in der Wahrnehmung führen?

Eine Serie von Fotokopien rundet Holtfrerichs bemerkenswert vielfältiges Werk ab. Windmühlen erscheinen in grobkörniger Auflösung auf der Leinwand. Die schwarzweiße Abbildung verleiht ihnen einen fragmentarischen und damit musealen Anstrich. Dem wirkt eine in Rautenform aufgetragene Lackschicht entgegen. Durch die grün-gräuliche Masse erhalten die Mühlen wieder eine neue Plastizität. Im Ergebnis steht ein Widerspruch. Denn das torsohafte Dokument vergangener Tage zeigt sich in überrealistischer Figürlichkeit: Als käme jemand auf die Idee, grisselige Schwarzweiß-Filme der zwanziger Jahre in 3-D zu zeigen.

Tatsächlich offenbart Holtfrerich mit seiner Werkschau eine ganz eigene Variante der Dreidimensionalität. So unterschiedlich seine drei strategischen Grundausrichtungen auch sind: Sie fügen sich doch zu einem ästhetischen Raum. Es ist der Raum der optischen Möglichkeiten und Wahrnehmungsvariationen; in ihm lässt sich untersuchen, wie Identitäten entstehen und was individuellen Ausdruck erzeugt. Die Ausstellung in der Galerie Claassen-Schmal bringt diesen Raum eindrucksvoll zur Geltung.