Blätter sehen Dich an

Ein klassischer Proustscher Moment der Erinnerung, den wir alle schon erlebt haben, ist das zufällige Stoßen auf gepresste Blumen oder Blätter zwischen den Seiten von Büchern. In diesen Begegnungen schwebt immer auch eine melancholische Erkenntnis mit – seien es persönliche Assoziationen oder die Projektion von fremden Erlebnissen, die heraufbeschworen werden. Sie sprechen von Vergangenem, Verlust, Niedergang oder Tod, wenn auch gerade der Zeitpunkt des Verwelkens eines Blattes einen ästhetischen Höhepunkt darstellt, ein letztes Aufbäumen gegen Vergessen und Vergänglichkeit. In diesem Buch sind fast drei Jahrzehnte Erinnerungen versammelt, jedes Blatt verbunden mit einem geographischen Ort und einem Moment im Leben.

Holtfrerichs Blätter existieren in einem dynamischen Spannungsverhältnis der Faszination mit einem virtuosen und verführerischen mimetischen Realismus und dem distanzierenden Abstraktionspotential einer fast mechanisierten Darstellung, verstärkt durch eine konsequente Serialität. Am Anfang der Begegnung mit den Blättern steht die Faszination mit der intensiven Farbenpracht eines allgegenwärtigen Naturobjektes – die konzentrierte Schönheit einfacher Baumblätter in unglaublicher Subtilität, Variation und Vielfalt. Die Fokussierung auf den Mikrokosmos des exemplarisch vereinzelten Blattes steht dabei in der Tradition einer romantisch verklärten Naturauffassung, die sowohl botanische Genauigkeit suchte wie Gemütsstimmungen und Sehnsucht nach zivilisatorischer Ursprünglichkeit auf Pflanzen, Gestein und Landschaften projizierte.

Die Faszination mit dem Wunderwerk des Naturschönen besteht weiter, allerdings gelöst vom metaphysischen Ballast. Die strukturierte Oberfläche des Aquarells suggeriert dabei erst einmal die einmalige, gewachsene Gestalt der Vorlage, eine einnehmende und fast haptisch greifbare Illusion eines Laubblattes. Zentriert und isoliert auf einem weißem Blatt Papier im standardisierten Format und in kompromissloser Frontalität und Flachheit verpufft der Effekt der Augentäuschung und Sinnesverführung. Was bleibt ist das Bild als Typus – eine Serie von Variationen in reduzierter und fast emotionsloser indexikalischer Reihung.

So ist eine zentrale Frage, die die Blätter stellen, die nach der Natur des Objektes als Ding an sich und dem Bild als eine durch Wahrnehmung und Intellekt gefilterte Erscheinung. Die getreue Wiedergabe des Blattes schafft eine Illusion des Eigentlichen, d. h. die – unmögliche – reine Wiedergabe ohne Reflexion in einer »Erinnerungskunst« (Cassirer). Das einfache Motiv in seiner strikten Wiederholung vermittelt dagegen die Erkenntnis, dass alle Darstellung auch immer kreativ und gestaltend ist. So transportieren die Blätter die Erkenntnis, im erweiterten Sinne von Goethes Gingko biloba, »dass ich eins und doppelt bin« – Laubblatt und Blatt, Bild und Abbild, Ding und Erscheinung, Realität und Illusion, Gegenwart und Vergangenheit, Existenz und Erinnerung.

Christoph Grunenberg