Blätter

„Blätter derselben Art können sich je nach Standort verschieden färben, so bei Eberesche auf trockenen Standorten kräftigrot, sonst gelb.“
Brockhaus Enzyklopädie

Was bringt die Farbe in die Blätter? Sie erinnern sich an den Biologieunterricht, die Photosynthese, diesen erstaunlichen Vorgang, in dem aus Kohlendioxid, Wasser und Licht und unter Mitwirkung sogenannter Assimilationspigmente Glucose wird. Zu den Assimilationspigmenten gehört als wichtigstes das Chlorophyll, das sich in den Chloroplasten einlagert und die grüne Farbe der Blätter bewirkt. Das Auge registriert dabei natürlich nicht den phantastischen Prozeß, in dem aus der Strahlungsenergie der Sonne etwas Substantielles wird, sondern sieht nur das grüne Laub, aber es verzeichnet mit Freude den umgekehrten Vorgang: den Abbau des Chlorophylls, der zur Herbstfärbung der Blätter führt, weil die zuvor durch das Chlorophyll überdeckten (roten) Carotinoide und (gelben) Xanthophylle plötzlich „farbwirksam“ werden (wie der Brockhaus das nennt). Zugleich werden Zellsaftfarbstoffe neu gebildet, die das spektakuläre Farbenspiel der Herbstwälder erzeugen – besonders, wenn der Herbst sonnig und kühl ist, wie im Indian Summer der Ostküsten-Staaten Nordamerikas.

Die Sache mit dem Chlorophyll war für mich eines der wenigen Naturphänomene, die noch über die trockene Sprache der Schulbücher und des langweiligen Biologieunterrichts hinweg eine Ahnung des Wunders bewahrten, das sie jenseits der naturwissenschaftlichen Entzauberung der Welt sind. Die Farb- und Formenvielfalt der Blätter hat seit je die Künste fasziniert, vom architektonischen Laubwerk der Gotik bis zu den Fotografien Bloßfeldts. Was aber macht ein konzeptueller Künstler wie Manfred Holtfrerich mit Blättern? Zunächst ein semantisches Spiel: denn seine Aquarelle, die Herbstblätter der unterschiedlichsten Pflanzen mit der Akribie botanischer Zeichnungen des 18. Jahrhunderts abbilden, sind ja selbst Blätter, freilich keine Naturprodukte, sondern zeichnerische Artefakte. Diese bilden Herbstblätter in unterschiedlichen Färbungs- und Verfallszuständen ab und bewegen sich in einem eigentümlichen Zwischenraum zwischen konkreter, objektbezogener Farb- und Formdarstellung und dem Zeigen jener ganz selbstverständlichen und unaufklärbaren Schönheit der Herbstblätter, wie sie jedes für sich einzigartig und so nur in einem einzigen Augenblick sind. Dann gibt es eine nicht nur metaphorische, sondern auch organische Verwandtschaft, denn die Blätter, die aquarelliert werden, sind ja ein Produkt jenes pflanzlichen Rohstoffes, den die natürlichen Blätter selbst mit hervorgebracht haben, und gewiß ist es wohlbedacht, die so kühl, sachlich und objekthaft präsentierten Aquarelle in Holz zu rahmen.

Das Spektrum und die Menge der Blätter sind unerschöpflich und prinzipiell unendlich – wie die Blattserie selbst auch, die lebenslänglich fortgesetzt werden könnte, ohne daß eine Schmälerung des Konzepts oder eine Minderung seiner Schönheit einsetzen würde. Seriell befassen sich die Blätter mit der Unendlichkeit der Zeit; jedes einzelne mit der Singularität eines Augenblicks. Die semantischen Überschneidungen im Laubwerk Holtfrerichs sind aber kein intellektuelles Spiel, sondern ein Verweis auf das paradoxe Verhältnis des mit allen Wassern der Moderne gewaschenen Künstlers zu seiner gleichwohl resistent gebliebenen Auffassung vom Schönen, das einfach da ist und sich zeigt. Diese altmodische Kategorie des Schönen beinhaltet sowohl ein Unsagbares wie ein Uneinholbares: Beschreibungen reichen an es genausowenig heran wie Reproduktionen – erstere werden Geschwafel, letztere Kitsch.

Es ist ein Glücksfall, daß Manfred Holtfrerich, obwohl der Tradition konkreter Kunst verbunden, sich deren asktisch-pedantischem Grundzug entziehen kann, indem er das Konkrete dort aufsucht, wo es ohne weiteres Staunen hervorruft, ein Staunen, das keines reflexiven Umwegs bedarf. Die „Blätter“ sind ein schöner Beleg dafür, daß Naivität im Umgang mit dem Vorfindlichen einen Erkenntnisvorsprung bedeuten kann, der durch noch so intensives Nachdenken nicht einzuholen ist: ein Blatt so einfach aufzuheben, wie wir alle das staunend in der Kindheit getan haben, es in einer solchen Präzision gestalthaft nachzubilden, daß sich einmal ein Setzer geweigert hat, eines dieser Blätter einzuscannen, weil er fürchtete, es dabei zu beschädigen, und es dann einer sachlichen Präsentation zu überantworten, die die Handschrift des Künstlers, ja die Prätention jeglichen Einfalls, konsequent negiert – das alles setzt einen so freien Umgang mit der Aufgabe und dem Material des Künstlers voraus, daß sich das Staunen auf den Betrachter der „Blätter“ umstandslos überträgt. Und was mehr könnte man von Kunst erwarten, als in Staunen versetzt zu werden?

Harald Welzer