Harald Welzer: Manfred Holtfrerich
in: artist Kunstmagazin, Nr. 97, 2013

Seltsam wie immer, die Bildobjekte von Manfred Holtfrerich. Vielleicht würde das schon reichen als Besprechung: seltsam. Denn ich glaube, dass es Holtfrerich um nichts anderes geht, als mit künstlerischen Mitteln etwas in die Welt zu bringen, was es zuvor noch nicht gab und was daher seltsam anmutet. Nein, falsch. Was es zuvor schon gab, was aber in einem so disparaten Verhältnis zu unserer Welterfahrung steht, dass es einem vorkommt, als habe man so etwas noch nie gesehen.

Dabei ist es folgerichtig, dass Holtfrerich mit eher gängigen Motiven arbeitet. Hier sind es Mühlen sowie Frauen in Trachten, slowenische Frauen, jeweils gerahmt in Plexiglasblöcken im Format 50 mal 40 Zentimeter. Die Bildobjekte mit den Mühlen treten einmal sehr warm, nämlich rot-orange in die Erscheinung, und einmal kalt in blaugrün. Die Abbildungen der slowenischen Trachtenmädchen gehen auf Buchseiten aus alten Fotobänden zurück, die Holtfrerich eingefärbt und damit merkwürdig verfremdet hat.

Nein, schon wieder falsch. Verfremdet scheint einem mitteleuropäischen Städtebewohner des 21. Jahrhunderts in seiner ganz und gar rationalisierten Welt schon die Frau in der Tracht. Keine Ahnung, was die einzelnen Elemente der Tracht zu bedeuten haben; auch keine Idee, in welchem Kulturkontext man die Abbildung zu „lesen“ hat. Es ist also schon fremd, was man da sieht, die künstlerische Bearbeitung akzentuiert diese Fremdheit allenfalls, bringt sich aber nicht hervor. Was für die Mühlen ebenso gilt. Im Zeitalter von Energiewende und mit Windrädern verspargelten Landschaften wirkt die hölzerne Bockwindmühle museal, ein nostalgisches Relikt aus einer Zeit, die sich von heute aus betrachtet am ehesten wie ein längst verlorenes Wunschholland ausnimmt. Schön war’s mit den Windmühlen, unschön dagegen heute mit den Windrädern. Fährt man über Land und sieht in irgendwo noch so eine alte Windmühle, entweder musealisiert oder zu Wohnzwecken umgebaut, freut man sich. Sieht man die Windräder, stellt sich eher ein Gefühl der Bedrückung ein. Erneuerbare Energien, ja, schon richtig, aber, äh, überall diese Dinger?

Historisch betrachtet stellt die Windmühle gegenüber dem heutigen High-Tech-Windrad natürlich die weitaus tiefere und bedeutendere Innovation dar, erlaubte sie doch Ersetzung höchst mühseliger körperlicher Arbeit durch eine durch äußerliche Energiezufuhr laufende Mechanik. Niemand musste mehr das Korn mit einem Stein in der Hand zermahlen; der Mühlstein lief wie von selbst. Demgegenüber sind diese Stromerzeugungsteile von heute tatsächlich low-tech. Nostalgie ist also gerade nicht am Platz: haben wir es doch bei der Windmühle mit einem technischen Artefakt zu tun, dass hinsichtlich seiner Prägekraft für das, was wir als modernes Leben, also als unser Leben, begreifen, weitaus bedeutsamer ist als alle großspurig verkündeten Energiewenden zusammen.

Die Herrschaft der Mechanisierung ist der eigentliche Beginn der Moderne. Dafür steht die Mühle: nicht für eine Vergangenheit als Idylle, sondern für einen Aufbruch, der längst dem Vergessen anheim gefallen ist. Ich glaube aber nicht, dass man Holtfrerichs Kunst mit derlei inhaltsästhetischem Räsonnement nahe kommt. Seine Bildobjekte rufen solche Gedanken nur auf, wenn man Annäherungsversuche an das unternimmt, was man da sieht. Die warme und kalte Farbigkeit, in der die immer gleich seltsame Mühle getaucht wird, ist sicher nicht als metaphorisierte Dialektik der Moderne zu interpretieren, sondern lediglich als warme und kalte Farbigkeit, die etwas mit dem Bild macht, das man sieht. Das reicht ja auch völlig.

Oder doch nicht: denn den ebenso seltsamen Trachtenmädchen kommt man ja so auch nicht bei. Denn sie sind als geradezu antimodernes Zeichen gar nicht so einfach einzuordnen wie die vergleichsweise einfachen Mühlen. Ihre Ikonographie ist viel schwieriger zu entschlüsseln, die Bildobjekte daher viel komplexer. Da ist es besser, es gleich sein zu lassen. Interpretationen sollen ja nichts in die Objekte hinein-, sondern allenfalls etwas herauslesen. Das geht hier aber gar nicht; Holtfrerichs Bildobjekte sperren sich ja gerade gegen das Interpretiertwerden.

Bis auf den Aspekt vielleicht, dass das Aufkommen einer Trachtenkultur viel mehr ein Produkt der Moderne als einer vormodernen Tradition ist. Tatsächlich machte sich im ländlichen Raum gerade da eine Brauchtumspflege inklusive Trachtenkultivierung etc. breit, als die Herrschaft der Mechanisierung, die Entstehung industrieller Arbeitsteilung und damit eben Enttraditionalisierung begann. Die Tracht ist selbst schon antimoderne Nostalgie, der Versuch, etwas zu bewahren, was es so nie gegeben hat.

Erfundene Vergangenheit. Es könnte sein, dass die Seltsamkeit der Arbeiten von Manfred Holtfrerich genau daraus resultiert, dass es ihm gelingt, Dinge zu schaffen, die einem auf unheimliche Weise vertraut sind. Man erlebt ein Gefühl der Vertrautheit und Fremdheit zugleich, und das macht diese Arbeiten auf eine Weise faszinierend und eindrücklich. Beschreiben kann man nur, was man sich hinreichend erschließen kann. Vor dem Merkwürdigen von etwas, was man sieht, aber doch nur vage in einem unerschlossenen Raum zwischen den Zeiten und den Kategorien nicht einordnen, sondern lediglich „einahnen“ kann, versagt die Beschreibung und wendet sich, wie es immer bei guter Kunst der Fall ist, hilfesuchend einem Dritten zu, der historischen Rekonstruktion, dem Vergleich, der Metaphorik, der Ikonographie bla bla. Viel angemessener als der ganze lange belesene Mittelteil dieses Textes bleibt also das Wort, mit dem er anfing: seltsam.

Harald Welzer