Interview (aus „Blätter“ 3. Band, Bremerhaven, 2012)

Manfred Holtfrerich, befragt von Jürgen R. Schwarz zur Reihe „Blätter“,

J.S. Was ist dir wichtig bei den Blättern, worauf kommt es dir an?
Kurz gesagt, dass die Blätter sich zeigen, wie sie sind, als Blätter, – so wie sie mir erscheinen, in ihrer Schönheit und Einzigartigkeit, – frei von Interpretation. In „Die Aktualität des Schönen“ sagt der Philosoph Hans-Georg Gadamer: „Mimesis in der Kunst heißt nicht, etwas Vorbekanntes nachzuahmen, sondern etwas zur Darstellung zu bringen, so dass es auf diese Weise in sinnlicher Fülle gegenwärtig ist“. Das finde ich richtig. Darauf kommt es an.

J.S. Warum nimmst du Blätter, warum nicht Muscheln oder Blumen?
Mich beschäftigt, was ein Bild ist, als Eigenart allgemein, wie es sich formuliert und wie es sich darstellt als konkreter Gegenstand. In diesem Zusammenhang waren Blätter, speziell Herbstblätter, besonders interessante Objekte. Sie zeigen in den Momenten ihres Verfallsprozesses ein schon „fertiges“ Bild mit dem, was wir auf der Blättfläche sehen, quasi eine „Komposition“ der Natur, die wie selbstverständlich erscheint. Ich mußte sie nur noch darstellen und hatte das Bild. Diese „vorformulierte Gestaltung“, – das Bild im Bild oder das Bild als Bild -, das hat mich fasziniert und zu dieser Arbeit angeregt.

J.S. Du stellst die Blätter in natürlicher Größe dar, warum?
Eben weil ich sie zeige, wie sie sind, als einmalige und unverwechselbare Objekte der Natur, es gibt keinen Grund, sie zu verändern. Die natürliche Größe zu negieren, würde die Arbeit in ihrer Klarheit nur beeinträchtigen.

J.S. Wenn Interpretationen kein Kriterium in deiner Arbeit sind, gibt es andere Aspekte?
Mehrere. Der wichtigste Aspekt ist, wie gesagt, Herbstblätter zu nutzen als vorgefunde-ne Bildform, als Vorlage.
Ein anderer Aspekt ist jenes damit zusammenhängende Phänomen, nämlich die beim Betrachten von Blättern sich unmittelbar einstellende ästhetische Empfindung. Das bedeutet für die Reihe, finde ich ein „schönes“ Blatt und stelle es dar, habe ich gleich-zeitig das Bild einer „schönen“ Arbeit vor Augen. Auch wegen ihres seriellen Charakters sind die Blätter als Bildobjekt ideal. Die Reihe ist strukturell unendlich und durch die Herstellung weiterer „Blätter“ vermindert sich weder ihre Schönheit noch ihre Qualität. Die Natur liefert mir das Bildmaterial immer wieder aufs Neue, – wunderbar.
Für den Betrachter nur bedingt erkennbar, für mich persönlich sehr wichtig ist auch der Prozeß des Zeichnens, des Malens selbst. Weil mir mit dem Blatt das fertige Bildmotiv vorliegt, empfinde ich ein Gefühl innerer Freiheit beim „Machen“, und das Gefühl von „Richtigkeit“, davon, dass die Sache stimmt.

J.S. Beim Betrachten der Blätter wirken sie vollkommen natürlich, gleichzeitig spürt man, dass sie ein Kunstwerk sind. Wie kommt das?
Ich würde sagen, durch ihre Darstellung als Kunstwerk wirken sie geradezu wie eine Verstärkung des Natürlichen, eindrücklicher noch als die realen Herbstblätter selbst, so, als sieht man ein Blatt zum ersten Mal so bewußt und klar, wie eine Zusammenfassung aller bisher gesehenen und erinnerten Blätter. Das repräsentierte Blatt ist hier nicht mehr nur Verweis, sondern in ihm ist eigentlich da, worauf verwiesen wird.

J.S. Wie gehst Du beim Zeichnen vor? Gibt es verschiedene Phasen, die jedes Bild bei der Herstellung durchläuft?
Ich wähle das Blatt aus, positioniere es und umreiße es sorgfältig mit einem Bleistift und beginne, mit dem Original als Vorlage neben mir. In den ersten ein, zwei Tagen geht es noch um das Nachzeichnen des Blattes, im Verlauf des Machens aber kippt die Darstellung irgendwann um, vom Zustand der Reproduktion hin zur Repräsentation. Durch die vielen Übermalungen verselbstständigt sich die Darstellung, wird Material. Nicht mehr ich stelle etwas dar, sondern es stellt SICH etwas dar, ein Blatt liegt vor mir auf dem Papier, noch nicht perfekt, noch im Rohzustand, aber durch die Arbeit des Verdeutlichens, der Präzisierung, werden die Spuren der Herstellung Stück für Stück getilgt, das Blatt wird schöner, weil klarer. Zum Schluss hat es sich vom Zustand der bloßen Nachahmung befreit und ist zu einem Objekt geworden, zu einem künstlerischen Werk, sinnlich gegenwärtig.

J.S. Wann hast du das Gefühl, das Blatt ist fertig?
Wenn ich mir sage „mehr geht nicht“, wenn ich ein „wirkliches“ Blatt vor mir habe, wenn es als Erscheinung vor mir steht.

J.S. Die Blätter haben eine Nummer und du nennst Orte? Was bedeutet das?
Die Blätter stehen in einer Handlungsreihe. Im Prinzip ist jedes Blatt so gut wie das andere. Nummeriert sind sie in ihrer Herstellungsreihenfolge mit Jahreszeit und Angabe des Ortes, an dem die Arbeit ausgeführt wurde, weil das Machen hier so wichtig ist. Fundort und botanische Zuordnung spielen keine Rolle.

J.S. Zum Schluss, was ist es eigentlich, was uns an den dargestellten Blättern so fasziniert und erstaunt?
Ich denke, es ist die oben beschriebene ästhetische Empfindung dem Objekt der Natur gegenüber, die man beim Betrachten von Herbstblättern spürt, manche Dinge sind einfach schön in ihrer bloßen Existenz. Es ist aber auch, das hoffe ich doch, die Schönheit der formalen Äußerung in der Auseinandersetzung mit dem Objekt BLATT, die innere Klarheit der Arbeit, die sich zeigt.

Hamburg, Mai 2012