Joachim Kreibohm über Manfred Holtfrerich

»Orangerot: Dieses warme feurige Rot entspricht im Farbwert dem Zinnober oder Kadmiumrot. Durch seine Aufdringlichkeit hinterläßt es in empfindsamen Naturen eine nicht unerträgliche Erschütterung.« (Peppino Wieternik)

Überraschenderweise bevorzugt Manfred Holtfrerich eine Farbe, die eigentlich keiner mag: Orangerot. Eine aufdringliche Farbe, die stets Aufmerksamkeit erheischen und sich in den Vordergrund drängen will. Bereits Johann Wolfgang von Goethe bemerkte, »auch habe ich gebildete Menschen gekannt, denen es unerträglich fiel, wenn ihnen an einem sonst grauen Tage jemand im Scharlachrock begegnete«. Orange ist eine Farbe, die identisch mit dem Namen der Frucht ist. Vor der Orange gab es kein Orange. Orange schützt durch Auffälligkeit, sie ist die Farbe der Sicherheit. Orange ist als Farbe des Wandels die Farbe der chinesischen Philosophie. Orange ist auch die Farbe des Vergnügens und der Geselligkeit. »Jedermann weiß, daß Gelb, Orange und Rot Ideen der Freude und des Reichtums einflößen und darstellen«, schrieb Eugène Delacroix. So trug Dionysos, der Gott des Weines und der Fruchtbarkeit, orangefarbene Kleider.

Manfred Holtfrerichs Interesse gilt der Klärung und Objektivierung des Formalen. Er stellt die Frage nach den Grundbedingungen des Bildes und hat sich der Untersuchung scheinbar gegensätzlicher Elemente verschrieben. Seine Strategien kreisen um die Fragestellung, in welcher Weise konkrete Farben und Formen auf der Fläche zusammenzuführen sind, um zu einem neuen Bild zu werden. Bewegt sich dieser Ansatz auf ausgetretenen Pfaden und gesichertem Terrain oder gelingt es, zu neuen Lösungen zu gelangen, ohne den Moden der Kritik und einem wie immer geforderten Innovationsdenken zu entsprechen.

In seinen frühen Arbeiten werden geometrisch-konstruktive Formelemente mit farbintensiven Bildgründen konfrontiert. Anfang der 1990er Jahre geht er in seinen Untersuchungen einen entscheidenden Schritt weiter und greift auf vorgefundene formale Lösungen zurück, um den persönlichen Duktus zugunsten einer Objektivierung des Formalen auszuschließen: Orangerot wird mit körperlich erscheinenden Darstellungen konfrontiert. Der Bildgrund und die auf ihm angeordneten Figuren stehen sich gegenüber. Ferner werden vorgefundene Objekte, etwa ein Teekännchen aus dem China des 10. Jahrhunderts, überdimensional nachgebildet und jenes Orangerot mit seiner extrem flächigen Anmutung direkt auf dreidimensionale Volumina aufgetragen. Bereits durch die Veränderung der Größenverhältnisse verlieren die Kannen ihre Bestimmung, ein nützlich Ding zu sein. Nicht wie Skulpturen auf einem Sockel, sondern gleich einem Bild sind diese farbig gefaßten Kannen direkt an der Wand befestigt, sie scheinen vor der Wand zu schweben und verlieren an plastischer Präsenz. Die Farbe gewinnt Macht über den Gegenstand und läßt ihn zum Bildgrund werden. Neben dem aufdringlichen Orangerot greift Manfred Holtfrerich auf eine begrenzte Skala von Blau, Gelb, Weiß und Schwarz zurück. Somit haben die Kannen als skulpturaler Gegenstand ihre eigentliche Funktion eingebüßt und werden trotz ihrer dreidimensionalen Eigenschaft gleichermaßen Bild. Bei seinen aus Holz handgedrechselten Tellern kontrastiert Orangerot mit Weiß, Schwarz oder Gold. Ebenso sind diese Arbeiten zweifach zu bestimmen: sie sind sowohl Bildfläche als auch Skulptur. Diese Ambivalenz markiert ihr Spannungsgefüge.

Inversionen finden statt: Die Bilder nehmen objekthaften, die Objekte bildhaften Charakter an. So hat die vormalige Beziehung von Farbe und Form eine Umkehrung erfahren. Fläche und Körper korrespondieren miteinander, nähern sich an und entfernen sich voneinander. Durch diesen Dialog entsteht etwas Neues, das weder Bild noch Objekt ist. Diese gegensätzlichen Elemente werden nicht in eklektizistischer Weise zusammengeführt, sondern erhalten eine eigene Verlaufsform. Das Bild scheint sich von seiner immanenten Bestimmung zu entfernen und sich nicht gemäß dieser zu verhalten. Im gleichen Maß entfernt sich das Objekt von seiner Bestimmung, Volumen im Raum zu erobern. Das Objekt nimmt flächigen Charakter, die Fläche objekthaften Charakter an. Anders formuliert: es entstehen objekthafte Bilder und bildhafte Objekte.

Eine weitere Werkgruppe greift ebenfalls auf vorgefundene formale Lösungen zurück. Gewichtige Geschichtsbücher und edle Kunstbände bilden die Vorlage für die Motive. Ihre Wahl wird bestimmt durch den jeweiligen formalen Ausdruck und durch die formale Eigenwilligkeit. Beispielsweise sind wertvolle Deckelpokale, Büsten berühmter Franzosen oder ehrwürdige Etrusker die Motive. Sie werden kopiert, extrem vergrößert und sind von einem lackierten, insbesondere die früheren Arbeiten charakterisierenden orangerotem Rand umgeben. Der Rand tritt in Kontrast zum schwarz-weißen Motiv und verstärkt seinen Objektcharakter, fungiert als Rahmen und grenzt gleichermaßen aus wie er abgrenzt, schließt etwas ab und weist über sich hinaus. Allerdings sind weder individuelle Biografien noch konkrete Personen Ausgangspunkt bildnerischer Strategien. Narrative Elemente sind dem Werk fremd. Statt dessen fungieren die Objekte als formaler Bestandteil eines Bildes und streifen die Rolle des figürlichen Motivs ab. Das Motiv wird zum Element des Bildhaften, verliert in seiner Gegenständlichkeit an Relevanz und gewinnt als Bildfigur an Bedeutung. Objekt und Bild, Form und Fläche werden vereint und lassen etwas Neues entstehen. Das Bild selbst wird zu einem anschaulichen Objekt.

Neben Bildern und Objekten entstehen in Form von Aquarellen realistische Darstellungen von Herbstblättern. Die Natur wird exakt abgebildet. Diese Arbeiten können als einzelne bestehen und sind dennoch Teil eines Systems oder Teil einer Serie. Jedes Blatt hat seine bestimmte formale Eigenart, seine bestimmte Farbigkeit, seine bestimmte Materialität und eröffnet eine unendliche Vielfalt weiterer Gestaltungsweisen. Die Blätter lösen sich von der Zweidimensionalität des Bildes und nehmen plastischen Charakter an, ohne wirklich Objekt zu werden. Zum einen verweisen sie in ihrer Einmaligkeit und Schönheit auf sich selbst und wollen nur sein. Zum anderen emanzipieren sie sich von ihrem bloßen Sein und weisen über sich hinaus auf die vielfältigen Möglichkeiten bildnerischer Formulierungen. In ihrer lakonischen wie exakten Ausformulierung zeigen sie die Wirklichkeit wie sie ist, ohne daß man sie wirklich so gesehen hat. Die Beziehung zwischen Bildwelt und Außenwelt reduziert und konzentriert sich auf eine unmittelbare Beziehung zwischen Objekt und Betrachter.

Manfred Holtfrerichs Untersuchungen überzeugen durch überraschende Lösungen. Seine Arbeiten lassen sich als Essay über die Grundbedingungen des Bildes lesen. Ein ständiges Wechselspiel findet statt. Das Prinzip der Umkehrung ist zur künstlerischen Grammatik geworden, die sich durch sein Werk zieht und es prägt. Scheinbar gegensätzliche Elemente wie Grund und Figur, Bild und Objekt, Oberfläche und Körper, Form und Fläche werden weder in ihrer puren Gegensätzlichkeit belassen noch als etwas getrennt Wahrnehmbares behandelt. Die Beziehung dieser Elemente zueinander ist zu einer dialektischen geworden. Mal überwiegt das Bildhafte der Objekte, mal das Objekthafte der Bilder. So will der dreidimensionale Gegenstand als Bild betrachtet werden, die zweidimensionale Fläche verlangt dreidimensionale Aufmerksamkeit. Weder bleiben die Arbeiten Bild noch werden sie zum Objekt, vielmehr sind sie etwas Anderes geworden – ein Bildobjekt. Die Bildhaftigkeit der Objekte einerseits und die Objekthaftigkeit der Bilder andererseits verweisen auf die Ambiguität seines Werkes. Vorschnelle Antworten auf die Frage, was eigentlich ein Bild sei, werden nicht gegeben. Die Sehnsucht des Betrachters nach Eindeutigkeit und kategorialer Zuordnung wird enttäuscht, hingegen werden seine Erwartungshaltungen beständig hinterfragt. Manfred Holtfrerichs Arbeiten erschöpfen sich weder in den farb- und formanalytischen Untersuchungen noch kokettiert er mit neokonzeptuellen oder kontextuellen Ansätzen. Seine Resultate belegen, daß auch in einer Zeit, in der prozeßhaftes Arbeiten und kommunikative Prozesse zusehends die künstlerische Praxis bestimmen, ein mit bildnerischen Mitteln veranstalteter Diskurs über die Objektivierung des Formalen zu neuen Lösungen führen kann. Ohnehin ist diese Untersuchung längst noch nicht abgeschlossen.

(aus: artist Kunstmagazin, Nr. 34, 1998)